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.Am nächsten Morgen stehe ichmit meinen beiden Schwesternan Gretels Bett.Meine ältereSchwester reist heute ab, siemuss arbeiten und sich um ihrKind kümmern.Unter all den TausendenFotos, die mein Vater überJahrzehnte aufgenommen undliebevoll in Fotoalben geklebthat, gibt es kein einzigesklassischesFamiliengruppenbild, wie in denalten Fotoalben meinerGroßeltern.1941, kurz bevorder Vater in die Armeeeingezogen wurde, entstand einGruppenbild von Gretel mitihren Geschwistern und denEltern.Das Foto war alsAndenken für dieHinterbliebenen gedacht, fallsdem Vater im Krieg etwaspassieren sollte.Jetzt stehen wir vor Gretelnebeneinander, als solle vonuns auch ein solchesGruppenbild aufgenommenwerden, und es ist, als sei auchsie nun an eine Art Frontbefohlen und verbringe ihreletzten Tage hier bei uns.JedeNacht ist mittlerweile gefährlich,jederzeit kann es sie erwischen.Jetzt öffnet sie die Augen nimmt sie wahr, dass wir unszum Abschiedsbild vor ihrversammelt haben? Ihr Blick istleer.Sie ist wie eine Kamera,doch ohne Fotograf dahinter.Niemand betätigt den Auslöser,es ist nicht mal ein Filmeingelegt.Dann merke ich, dasses doch noch einenaufmerksamen Betrachter gibt:Mein Vater blickt durch die Türhinter Gretels Bett, tritt nunzwischen mich und meineSchwestern und legt die Armeum uns.Mit Tränen in denAugen blickt er auf Gretel:»Ich bin so stolz, diese Fraugehabt zu haben, die mir dieseKinder geschenkt hat.«In dieser Nacht versucht Malteneben seiner Frau im Bett zuschlafen.Eigentlich ist esabsurd: Ein Leben lang hattendie beiden getrennteSchlafzimmer, und jetzt auf derWechseldruckmatratze findensie endlich zueinander? DochRomantik kommt kaum aufbeim ständigen Zischen desAuf- und Abpumpens derMatraze und beim Brummendes Pumpmotors.Vor allemaber lässt Gretels rasselnderAtem Malte keine Ruhe.Mehrmals in der Nacht saugt ersie ab, doch das Röcheln wirdimmer nur für kurze Zeit besser.Erst am nächsten Morgen ist sieetwas ruhiger, doch ihr Atemgeht ungewöhnlich flach undschnell.Meine jüngere Schwester fährtheute in ihr Büro, wo sie Bergevon liegen gebliebenen Sachenaufarbeiten muss.Außerdemverlangen die Kinder zu Hausenach ihr.Auch ich habe heutedas starke Bedürfnis, michwieder einmal um mein eigenesLeben zu kümmern, mit meinerFreundin zu telefonieren, E-Mails zu beantworten und anmeinem Film zu arbeiten.DieCutterin hat inzwischen eineVersion unseres letztenDrehtages von vor einer Wochegeschnitten.Als ich die Szenenbetrachte, bin ich froh, denn aufeinmal werden all dieInformationen überflüssig, dieich geplant hatte in einemlangen Voice-Over-Kommentarzu erzählen.Warum soll ich andieser Stelle von all denQuerelen im Krankenhausberichten? Die Bilder sprechenfür sich: Gretel mitgeschlossenen Augen wird vonihren Enkelkindern gefüttert.Am späten Nachmittag hebe ichzusammen mit Gabija meineMutter in ihren Sessel undverabreiche ihr vorsichtig einpaar Löffel Tee.Ab und an sagtsie »Aua« oder »Oh, bitte «Ich spiele ihr Suzanne auf derGitarre vor, und prompt schläftsie wieder tief und fest ein.Dabei sinkt ihr Kopf zur Seite,und ich versuche, ihnaufzurichten.Dann kommtmeine Schwester dazu.»Gretelist ja ganz bleich!«, stellt siebesorgt fest.Stimmt! Das warmir gar nicht aufgefallen.IhrAtem geht jetzt wirklich sehrschnell, die Brust hebt undsenkt sich eher wie bei einemkleinen Hund als wie bei einemMenschen.Wir zählen dieAtemzüge pro Sekunde, aber esist doch nicht so bedenklich,wie wir dachten.Der Arzt hatuns gesagt, wenn sie nicht öfterals einmal pro Sekundeeinatmet, sollten wir uns keineSorgen machen.Wir legen siewieder ins Bett und überlegen,ob wir sie noch mal absaugensollen.Aber das ist immer sehranstrengend für sie, und da sichder Atem nicht so schlimmanhört, warten wir lieber ab.Zusammen mit Malte undGabija setzen wir uns zu Teeund Kaffee an den großen Tischim Wohnzimmer, von dem ausman Gretel im Auge behaltenkann.Wir reden darüber, ob daszweite Schmerzpflaster schonanschlägt, und ob wir vielleichtsogar noch ein drittesverabreichen sollten, um GretelsAtem zu beruhigen.Oder sollenwir den Arzt rufen? Da sagtGabija: »Pst! Gretel Atemjetzt besser?« Ich zähle im Geistmit: »Einatmen 21 22 Ausatmen 23 24.«Tatsächlich! Ihr Atem ist vielruhiger geworden.Gott seiDank! Erleichtert halten wirunsere Dreitropfen-Wodka-Zeremonie ab.Das: Wässerchen9 brennt mir wohligin der Kehle, und ich beginne,an ganz alltägliche Dinge wiedas Abendessen zu denken.Malte will Gemüse machen,und ich gehe los, um noch Salatzu kaufen.Ich lande in einem: biologischen9 Supermarkt, derviel zu viel Auswahl hat.Ichkann mich nicht entscheiden.Minutenlang vergleiche ich diePreise und vertrödle die Zeit,sinniere über das Wort: Kopfsalat9 , das mich auf: Vokabelsalat9 bringt, ein guterAusdruck für das, was ichmanchmal mit Gretel beimEssen erlebt habe.So! Jetzt muss ich mich aberentscheiden: Eisbergsalat,Chicorée, Feldsalat oderRucola? Gretel mochte dochdiesen roten, bitteren, wie heißtder noch Endivien? Nein,Quatsch: Radicchio genau!Den mischte sie dann gerne miteinem grünen Salat.Von meinerMutter habe ich auch gelernt,eine Balsamico-Senf-Soße zumachen, eigentlich das Einzige,womit ich in der Küche beimeiner Freundin Begeisterungauslöse.Schade, ich hätte Gretelgerne mal gezeigt, wie ich ihrSoßen-Rezept mit Honig oderMarmelade anstatt Zuckerweiterentwickelt habe.Gibt esnoch Nüsse zu Hause?An der Kasse fällt mir ein,dass wir noch Tomatenbrauchen, und ich laufe zurückzum Gemüse.Nachdem ichendlich bezahlt habe und dabeibin, die Tüten zu packen,erreicht mich der Anruf meinerSchwester.»David, kommst duschnell nach Hause?«, fragt sieweinend.Ich beeile mich,verfalle in der Fußgängerzoneaus meinem schnellen Schritt-Tempo immer wieder in einenleichten Dauerlauf.Es ist kaltund die Einkaufstüte schneidetmir in die Finger.Soll ich dieTüten stehen lassen undlosrennen? Warum hat meineSchwester mir nicht gesagt, waslos ist, und warum habe ich sienicht gefragt? Weil es eigentlichklar ist: Gretel liegt im Sterben,und wenn ich mich nicht beeile,ist es zu spät
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